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Biologische Degummierung von Bastfasern – was genau ist das?

Genau genommen ist das Verfahren der biologischen Degummierung von diversen Bastfasern wie Flachs, Hanf, Fasernessel und Ramie genau so alt wie deren Nutzung durch den Menschen. Auch vor etlichen tausend Jahren war es ohne die mehr oder weniger kontrollierte Abtrennung von faserbegleitenden Klebstoffen durch ubiquitäre Mikroorganismen, meist Bakterien oder Pilze, überhaupt nicht möglich, verspinnbare Fasern zu erhalten.

Flachs

Besonders beim Flachs wurde dieses im wahrsten Wortsinn „natürliche“ Verfahren sehr weit entwickelt. Dennoch ist sein Gegenstand, die mikrobielle Abspaltung von hochmolekularen organischen Säuren und deren Salzen von den Zellulosefasern der Bastfaserpflanzen und damit die Loslösung der Fasern aus dem mechanischen Verstärkungsverbund der Einzelpflanze, der Gleiche geblieben.

Die sogenannte Tauröste nutzt die zu Milliarden auf jedem Quadratmeter Ackerfläche vorhandenen Saprobionten (d.h. von toter organischer Substanz lebender Kleinstorganismen) zum Abbau der Faserbegleitstoffe bereits im Verlauf der Ernte und führt so einen Gutteil der von den Flachspflanzen aufgenommenen Nährstoffe unmittelbar in den Ackerboden zurück aus dem sie stammen. Der Nährstoffexport von der Anbaufläche wird entsprechend minimiert. Nachteilig bei dem Verfahren ist dessen hohe Witterungsabhängigkeit, die immer wieder zu Missernten führt. Bei den Saprobionten der Tauröste handelt es sich überwiegend um Pilze, die im feucht-warmen Milieu besonders schnell arbeiten und nur durch eine vollständige Trocknung des Flachsstrohs zur Einstellung ihrer Zersetzungsarbeit gezwungen werden können.
Wenn jedoch der Regen nicht enden will und so die dringend notwendigen Trocknungs- bzw. Feldarbeitstage nicht zur Verfügung stehen, überröstet der Flachs und kann im Extremfall dermaßen an textiler Qualität verlieren, dass er eine Bergung und Weiterverarbeitung nicht mehr lohnt.

Von links nach rechts: Flachs getrocknet (Grünflachs) -> Tauröstflachs -> Wasserröstflachs -> Flachs aus modifizierter Wasserröste (Copyright Bild: Heger.Hulda Natural Fibres Consultants)

Etwas anders liegen die Verhältnisse bei der Wasserröste. Dieses Aufschlussverfahren war bis in die fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts das Standardverfahren zur Erzeugung von hochqualitativen Flachsfasern. In dem belgischen Fluss Leie (franz.: Lys) wurde über viele Jahrhunderte hinweg gebündeltes Flachsstroh biologisch aufgeschlossen. Ebenso legendär wie die Flachsqualität war die Farbe des Flusswassers: Goldgelb, was der Leie den Beinamen „Der goldene Fluss“ eingebracht hat.
Im Unterschied zur Tauröste erfolgte dort die traditionelle Wasserröste an auf dem Feld lediglich getrocknetem Flachsstroh, welches, unter Dach zwischengelagert, chargenweise entkapselt, gebündelt und in Kästen in den Fluss eingesetzt wurde.
Bei dieser Vorgehensweise exportierte man zwar eine Menge Nährstoffe von den Feldern in den Fluss bzw. die Nordsee, gewann jedoch mit den in den Kapseln befindlichen Leinsamen eine beträchtliche Menge bester Nahrung und Saatgut.
Die industrielle Wasserröste wird heute hauptsächlich in Ägypten betrieben. Dies nicht etwa, weil man dort deren Verfahrensvorteile voll ausschöpfen würde, sondern eher, weil unter den dortigen Niederschlagsverhältnissen eine homogene Tauröste nicht durchführbar ist.
Auch findet die dortige Wasserröste nicht mehr in Flüssen oder Gräben statt, sondern ist in große Betonbassins verlegt, in denen in Röstwasser und am pflanzlichen Gewebe etablierte Saprobionten, überwiegend Bakterien, den Aufschluss durchführen. Dieser dauert je nach Jahreszeit bis zu 12 Tage und endet damit, dass durch Ablassen des Wassers die biologische Degummierung abgebrochen wird. Neben den Röstbassins befinden sich große Freiflächen, auf denen der Flachs unmittelbar nach der Entnahme aus den Röstbassins sonnengetrocknet werden kann.
Die oft überalterten Anlagen genügen hiesigen Vorstellungen von Prozesssteuerung, Nachhaltigkeit und Umweltschutz zwar nicht, stellen aber ein risikoarmes Aufschlussverfahren dar. Erkauft wird die dortige Wasserröste mit einem hohen Handarbeitsaufwand und nicht unbeträchtlichen Emissionen.
Investitionen in eine optimierte Steuerung des Wasserröstprozesses, dessen Mechanisierung und eine Brauchwasseraufbereitung bzw. einen geschlossenen Wasser- und Nährstoffkreislauf können die dortigen Akteure derzeit nicht leisten. Dies ist umso bedauerlicher, als die biologische Degummierung von Flachs in Form der Wasserröste unter den ägyptischen Witterungsbedingungen ein weitaus größeres Optimierungspotenzial bietet als dies in Westeuropa bei der technisch sehr ausgereiften Tauröste der Fall ist.

Hanf

Die biologische Degummierung von Hanf mittels der Tauröste, einerlei ob als Stängel in Parallellage analog Flachs oder ob als vorzerkleinertes Materialgemisch aus mehr oder weniger zerkleinerten Stängelteilen bzw. freiliegenden Fasern, ist wegen dem natürlichen Aufbau des Hanfstängels nur in Ausnahmefällen homogen umsetzbar. Im Ergebnis bedeutet dies, dass praktisch keine Hanffasern aus Tauröste für mittel- und hochwertige textile Zwecke zur Verfügung stehen.
Die traditionelle Wasserröste von Hanf, wie sie vereinzelt beispielsweise noch in Ungarn durchgeführt wird, krankt an suboptimalem Ausgangsmaterial und überalterter Aufschluss- bzw. Verarbeitungstechnologie. Die so gewonnenen Hanffasern sind zu mittleren oder gar feinen Hanfgarnen leider nicht ausspinnbar.

 

Von Links nach Rechts: Hanf getrocknet -> Hanfstroh Tauröste -> Hanfstroh modifizierte Wasserröste (Copyright Bild: Heger.Hulda Natural Fibres Consultants)

Aus China sind eine Vielzahl von Patenten bekannt, die sich, teils von zweifelhafter erfinderischer Höhe, mit der biologischen oder biochemischen Degummierung von Hanf befassen. Ob und inwieweit diese Patente in Hinblick auf die rein biologische Degummierung auch in dortigen Industrieanlagen genutzt werden lässt sich von dieser Stelle aus nicht beurteilen. Fest steht lediglich, dass die feinsten derzeit am Markt erhältlichen Hanfgarne aus China stammen.
Textiltechnologisch überzeugende Ergebnisse bezüglich Langhanf hinsichtlich der Wasserröste in Europa liefern lediglich Kleinanlagen, deren großtechnischer Umsetzung ein hoher Konstruktionsaufwand, ein beträchtlicher Investitionsbedarf sowie die Notwendigkeit der Integration aufwändiger Wiederaufbereitungsanlagen der Abwässer entgegensteht.

Europäische Fasernessel und Ramie
Beide Nesselarten, die europäische Große Brennnessel und die Ramie lassen sich zwar grundsätzlich ebenfalls mittels der Tauröste degummieren, jedoch sind die durch eine anschließende mechanische Entholzung gewonnenen Fasern von unzureichender textiler Qualität. Hervorragende Qualitäten an Ramie- und Nessel fasern sind hingegen gewinnen, wenn eine Entholzung bzw. Entfernung der Kutikula im erntefrischen Zustand (Ramie) erfolgt oder der (innere) Holzteil des Stängels die Abtrennung der Faser unbeschadet, d.h. als Ganzes, übersteht.
Zu den schon im vorherigen Absatz genannten Hindernissen einer großtechnischen Umsetzung der Erfahrungen aus hiesigen Versuchsanlagen treten im Fall der Ramie noch interkulturelle und wirtschaftspsychologische Hindernisse hinzu. So sind beispielsweise in China häufig wissenschaftlich-technisches Know-How und ökonomische Entscheidungskompetenz entkoppelt, so dass Investitionsbefürwortungen von Ingenieuren gegenüber der Unternehmensführung zu erheblichen Karriererisiken führen können. Hinzu kommt, dass schnell verdientem Geld meist der Vorzug von nur langfristig rentablen, gleichwohl nachhaltigen und ökologisch vorzüglichen Investitionen gegeben wird.

 

Von Links nach Rechts: Ramie VR China (chemisch degummiert durch alkalische Überdruckochung) -> Ramie Deutschland (modifizierte Wasserröste) -> Fasernessel Deutschland (modifizierte Wasserröste) (Copyright Bild: Heger.Hulda Natural Fibres Consultants)

 

 

Derzeit häufen sich die Meldungen, dass vor allem in China im industriellen Hanf und Ramie Maßstab auch biologisch degummiert würden. Geht man diesen Nachrichten auf den Grund, stehen dahinter jedoch stets Verfahren, bei denen nicht lebende Organismen, sondern biotechnologisch erzeugte Enzyme bzw. Enzymmischungen unter -mit Temperatur und Prozesschemikalien – exakt eingestellten Bedingungen einige Stunden auf die Bastfasern einwirken. Dies jedoch ist kein biologischer Prozess, sondern allenfalls ein biochemisches Verfahren.
Auch ist der Neuigkeitswert eher begrenzt, versucht man in Europa doch seit mehr als 30 Jahren mit derartigen Enzymen die Tauröste von Flachs zu umgehen und aus unaufgeschlossenem, lediglich getrocknetem und mechanisch entholztem Flachs fein ausspinnbare Qualitätsfasern zu produzieren.
Interessanterweise haben sich jedenfalls in der Flachsfaserproduktion enzymatische Verfahren nicht durchsetzen können. Dies vor allem aus drei Gründen: Zunächst sind Enzyme in den erforderlichen Mengen nicht gerade billig, daneben setzen solche Verfahren einen beträchtlichem apparativen Aufwand voraus und schließlich reichen die enzymatisch behandelten Fasern in Feinheit und/oder Festigkeit nur in Ausnahmefällen an biologisch degummierten Flachs heran.
Ob man in China nun das Preis/Leistungsverhältnis der Enzyme durchschlagend verbessert hat, Zugriff auf günstigere Maschinen hat oder auf derart hochwertige Hanf- oder Ramierohstoffe zurückgreifen kann, dass es auf die letzten 10% Faserqualität nicht mehr ankommt, mag noch einige Zeit ein Geheimnis des Reichs der Mitte bleiben.
Bereits heute kann jedoch festgestellt werden, dass eine Behandlung mit künstlich zugeführten Enzymen kein biologischer, sondern ein biochemischer Prozess ist; insoweit ist Wert darauf zu legen, dass ein solcher Prozess nicht begrifflich grün gewaschen wird und zukünftig als das bezeichnet wird was es tatsächlich ist: eine biochemische Degummierung.

Erste neuere Erfahrungen mit dem Anbau von Ramie in Deutschland

Innerhalb von 80 Tagen wächst Ramie leicht mehr als 2 m hoch

Innerhalb von 80 Tagen wächst Ramie leicht mehr als 2 m hoch

Ramie (Boehmeria nivea) ist eine Pflanze aus der Familie der Nesselgewächse und eng mit unserer großen Brennnessel (Urtica dioica), von der faserreiche Sorten als Fasernesseln bezeichnet werden, verwandt. Im Unterschied zu dieser weist Ramie allerdings keine Brennhaare auf und ist daher ein eher umgänglicher Zeitgenosse, der, einmal gepflanzt, als Dauerkultur bis zu 20 Jahre Erträge bringt.
Die Hauptanbaugebiete von Ramie liegen in den subtropischen Teilen von China, auf den Philippinen, in Brasilien und einigen südostasiatischen Ländern sowie in Indien. In Japan und Korea wird ebenfalls Ramie angebaut, dies jedoch eher aus einer langen Tradition heraus als im industriellen Maßstab. China nimmt bei weitem die wichtigste Stellung unter den Erzeugerländern von Ramie ein.

Vor etwa 120 Jahren, in einer relativ kurzen Zeitspanne mit vergleichsweise warmen Wintern, wurde Ramie auch in Deutschland angebaut und verarbeitet. Besonders in der Oberrheinebene fanden sich günstige Bedingungen hinsichtlich Boden und Klima. Zwar wurden seinerzeit viele Fragen von Anbau, Ernte und Aufbereitung bearbeitet und teilweise auch gelöst, jedoch verdarb der hohe Anteil an Handarbeit und die kostenträchtige Abtrennung unerwünschter Faserbegleitstoffe die Ökonomie des hiesigen Ramieanbaues, so dass die Ramiefelder nach wenigen Jahrzehnten wieder verschwanden.

Unsere Erfahrungen mit dem, zugegeben kleinflächigen, Anbau und der labormäßigen Verarbeitung von Ramie stammen aus dem Rohstoffgarten der Flachswerkstatt auf dem ehemaligen Betriebsgelände der Holstein Flachs, wo wir von 2003 bis 2013 erste Erfahrungen mit Ramie – dies in direktem Vergleich mit Faserlein und Nutzhanf – sammeln konnten.
Ab 2012 wächst Ramie neben in bzw. neben unserem Gewächshaus in Nettelsee/Kreis Preetz sowie in Kiedrich im Rheingau.
Standardmäßig decken wir über Winter die Ramiepflanzen ab, da ein tief in den Boden einziehender Frost die unterirdischen Pflanzenteile jedenfalls schwächt oder gar abtötet. Dazu haben wir mit zufriedenstellenden Ergebnissen Flachsscheben, Tannenreisig oder Abdeckvliese verwendet.

Es ist nicht zu erwarten, dass in Mitteleuropa ähnlich viele (Teil)Ernten wie in China erzielt werden können. Während in Zentralchina 4 Schnitte im Jahr üblich sind, kamen wir über zwei Schnitte im Jahr nicht wirklich hinaus. Während dort der erste Schnitt bereits im März erfolgen kann, beginnt hier im besten Fall dann gerade einmal die Vegetationszeit.

Erhebliche Unterschiede zwischen den hiesigen und fernöstlichen Standorten bestehen auch in Niederschlagsverteilung und den täglichen Sonnenstunden. Dies macht es in trockenen Sommern -wie in den beiden letzten Jahren- einerseits erforderlich, die Ramie zu bewässern, andererseits ist die Ramie auch nicht optimal an die hohe und lange (Ende Mai bis Ende Juli ) Sonneneinstrahlung angepasst. Letzterem sind wir durch den Anbau von Ramie im Mittag und Abendschatten von Nutzhanf und Miscanthus bzw. neben von Osten nach Westen verlaufenden Mauern entgegen getreten.

Dennoch sind die ersten Ergebnisse unserer Versuche mit großer Vorsicht zu bewerten.
Über die Jahre haben wir in der Summe aller Teilernten relativ stabile Trockenmasseerträge im Bereich von 1,4 bis über 2 kg/m2 gefunden. Die Trockenmasseerträge der Blätter und der Sprossspitze betrugen dabei etwa 0,25 bis 0,4 kg/m2, die des Holzkerns etwa 0,65 bis 1,05 kg. An degummierter (spinnfähiger) Ramiefaser entspricht dies etwa 0,08 bis 0,18 kg/m2.
Diese Erträge liegen (umgerechnet 800 kg/ha bis 1800 kg/ha) etwas unter jenen von Faserlein (900 kg/ha bis 2600 kg/ha), jedoch darf dabei nicht verkannt werden, dass die Ramiefaser wesentlich feiner als die Flachsfaser ist. Dies gilt sowohl für die technischen Flachsfaserbündel im Langflachs und Werg als auch für die Elementarfaser, d.h. eine einzelne Faserzelle: Während die Elementarfaser von Flachs 60mm Länge kaum überschreitet, finden sich in Ramie Faserzellen von 100 bis 200 mm Länge.

Entsprechend ist Ramie auch diejenige Bastfaserpflanze, aus der die feinsten Garne (Nm 60 bis Nm 80) hergestellt werden können, während beim Flachs bzw. Leinen Garnfeinheiten oberhalb Nm 40 nur sehr selten am Markt sind.
Flächenerträge und Feinheiten machen die Ramie zwar zu einem potenziellen Substitut für Baumwolle, jedoch fehlt es selbst in den Hauptanbauländern an effektiver Ernte- und Aufschlusstechnologie und dem Bewusstsein, dass eine Vorfinanzierung von Forschung und Entwicklung zu Ramie unter dem Strich wesentlich günstiger kommt als die (Nach)Finanzierung der Umweltschäden durch exzessiven Baumwollanbau. Oder anders gesagt: Verluste durch Umweltschäden in Baumwollanbau werden sozialisiert, Gewinne werden kapitalisiert.

Für weitergehend Interessierte wird der Flachsshop bald einen Anschauungsset „Ramie S“ in das Sortiment nehmen. Daneben sind ab März wieder lebende Ramiepflanzen für Ihren Garten oder Ihr Gewächshaus erhältlich.